Theologie der Gastfreundschaft

1. Einstieg
Im tecum beschäftigen wir uns seit einiger Zeit mit der keltisch-christlichen Spiritualität. Vor 1400 Jahren kamen Leute wie Gallus und Columban als irisch-schottische Wandermönche in unsere Gegend und brachten unseren alemannischen Vorfahren das Evangelium. Damals gab es hier nur noch vereinzelt kleine Reste des Christentums, das die Römer gebracht hatten. Dabei entdeckten wir, dass das ein Teil unseres geistlichen Erbes ist. Ein Teil unserer geistlichen Wurzeln, die zwar verschüttet sind durch andere Schichten, die sich darüber abgelagert haben. Aber etwas von diesem Erbe ist immer noch da. Und je mehr wir uns damit beschäftigten, desto mehr wurde uns bewusst, wie stark diese Spiritualität auch in unsere Zeit hineinspricht. Da ist viel mehr als die schönen irischen Segenssprüche.

Aus Irland bestellte ich den Kurs „Sacred Living“ über sechs grundlegende Merkmale der keltisch-christlichen Spiritualität und Theologie. Erstaunt stellte ich fest, dass darin auch das Thema „Gastfreundschaft“ aufgegriffen wird – und das an zweiter Stelle. Für einen Glaubenskurs ist das eher ungewöhnlich!

  • Schöpfungsspiritualität – unsere Beziehung mit dem Rest der Schöpfung
  • Gastfreundschaft – unsere Beziehung mit uns selbst und anderen
  • Lebenseinstellung – das was wir glauben ist das Fundament unseres Lebensstils
  • Kreative Spiritualität – mit dem Ganzen Menschsein sich spirituell in Beziehung bringen
  • Pilgerschaft – die spirituelle Reise
  • Die Anderswelt – Tod, Heilige und Engel

Natürlich ist Gastfreundschaft ein wichtiger Punkt. Da sind wir uns sicher einig. Als Kirche sollen wir gastfreundlich sein. Von einem Christen wird das in einem gewissen Mass erwartet. Aber dass Gastfreundschaft ein grundlegendes Erkennungsmerkmal von Glauben ist und theologisch begründet wird, das war für mich neu.

Die keltischen Christen legten grossen Wert auf Gastfreundschaft. Es gibt unzählige Geschichten, die von der Grosszügigkeit der keltischen Heiligen berichten.

  • Die Geschichte von der heiligen Brigida z.B. erzählt davon, dass sie von frühauf die Gewohnheit hatte, den Armen zu helfen. (Was bei ihrem Vater nicht so gut ankam.)
  • Keltische Klöster waren nebst Orten des Gebetes und Lernens auch Orte der Zuflucht und der Gastfreundschaft. Es wird erzählt, dass der Mönch Columba, bevor er von Irland nach Schottland ging und dort ein Kloster auf der kleinen Insel Iona gründete, jeden Tag Essen für tausend Menschen bereitstellte.


Eine Theologie der Gastfreundschaft
Was heisst das?
Gastfreundschaft ist nicht nur eine Frage der Ethik und Moral, des rechten Tuns von dem, was sich gehört.
Gastfreundschaft ist nicht nur christliche Pflicht.
Gastfreundschaft ist Teil unseres Nachdenkens über Gott und den Glauben.
Gastfreundschaft ist somit ein Teil unseres Seins, nicht nur unseres Tuns.
Ein Teil unseres Seins in Gott.
In der Gastfreundschaft ist Gott selber gegenwärtig, im Miteinander wird etwas spürbar, zeigt sich sein Wesen.

Gastfreundschaft hat darum etwas Sakramentales. Denken wir an das Abendmahl, das Jesus mit den Jüngern feiern. Denken wir, wie wichtig die Tischgemeinschaft für Jesus war, aber auch im Leben der frühen Kirche. In der Apostelgeschichte heisst es, dass sich die Gläubigen täglich in den Häusern trafen zum Feiern und zum Essen.

In den Sakramenten materialisiert sich die göttliche Liebe. Sakramente bringen uns in Verbindung miteinander und mit Gott.
Deshalb kann man auch von der Kraft der Liebe sprechen, die sich in der Gastfreundschaft zeigt.
Aber Liebe ist ein wenig ein abstrakter Begriff, Gastfreundschaft ist farbiger, lebendiger

2. Altes Testament
1. Mose 18, 1-15 Drei Männer bei Abraham    

Drei Männer kommen zu Abraham. Sie haben einen besonderen Auftrag. Aber am Anfang ist es eine ganz normale Begegnung zwischen Fremden. Meistens konzentrieren wir uns in dieser Geschichte auf den zweiten Teil, auf die Ankündigung, dass das hochbetagte Ehepaar Abraham und Sara noch einmal Eltern werden. Das ist ja zum Lachen, findet Sara, in unserem Alter!

Spannend ist, wie ausführlich und konkret berichtet wird, wie Abraham die Besucher einlädt, ja geradezu zum Bleiben nötigt. Er verspricht ihnen Wasser und Brot. Sozusagen das gesetzlich vorgeschriebene absolute Minimum. Hinter dem Rücken der Gäste setzt der dann aber alle Hebel in Bewegung und lässt ein üppiges Festmahl zubereiten.

Natürlich hat das eine gewisse Zeit gedauert. Was wurde dabei gesprochen? Davon steht nichts. Wer man ist? Woher man kommt? Ob man gemeinsame Bekannte hat? Wurden Neuigkeiten aus der weiten Welt ausgetauscht? Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall weiss Abraham in diesem Moment nicht, wer ihn besucht.

Erst während dem Essen kommt die entscheidende Botschaft. Die drei Männer bzw. Gott hätte auch direkt zur Sache kommen können. Aber er fällt nicht mit der Türe ins Haus. Die Gastfreundschaft, die Tischgemeinschaft sind wichtig. Sie bereiten den Boden. So entsteht eine Verbindung, eine Beziehung. Vertrauen.

Bei Abraham fällt die Botschaft auf fruchtbaren Boden. Er kann vertrauen. Es ist Sara, die lachen muss. Sie hat hinter dem Vorhang gelauscht. Sie sass nicht am Tisch mit den Fremden. Sie kann die Botschaft nicht glauben. In ihr ist noch kein Vertrauen gewachsen.

In 2. Mose 22 finden sich Bestimmungen, wie Fremde behandelt werden sollen.
Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken, denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen… Wirst du sie bedrücken, werden sie zu mir schreien, und ich werde ihr schreien erhören! (Exodus 22, 20 und 22)

Gerade weil das Volk Israel selber erfahren hat, was es heisst, ausgeliefert und fremd zu sein bis hin zu Unterdrückung, ist die Gastfreundschaft ein Gebot Gottes. Ein Fremder braucht Schutz, denn er befindet sich ausserhalb seines Zugehörigkeitskreises. Er ist Wind und Wetter ausgeliefert, Hitze und Staub. Er ist auch der Willkür der Menschen ausgeliefert, denen er begegnet. Darum gilt der als besonders schützenswert.

Wir sehen hier: Gastfreundschaft kümmert sich nicht nur um die körperlichen Bedürfnisse. Es geht nicht nur um das Stillen von Hunger und Durst. Es geht nicht nur darum, dass jemand für eine Nacht ein Dach über dem Kopf hat. Es geht auch darum, dass Gastfreundschaft unserer Seele eine Zuflucht gibt. Oft kam der Fremde früher aus einer schwierigen Situation. Man verliess nicht freiwillig die Heimat. Reisen war noch kein Thema. Deshalb war man froh und dankbar, wenn man irgendwo Unterschlupf und Geborgenheit fand.

Gastfreundliche Menschen sind Menschen, die nicht von sich her denken, sondern sich in die Lage des Gastes versetzen. Sie fragen sich: Was würde mir jetzt gut tun, wenn ich in dieser Lage wäre? Wenn ich selber fremd wäre?

Letztes Jahr standen wir als Familie etwas fragend und etwas verloren in Stokholm vor einer U-Bahn-Station. Es ging nicht lange und schon wurden wir von einem jungen Mann gefragt, ob wir Hilfe brauchen.

Wenn sich jemand um uns kümmert, dann sind wir viel offener für das, was er zu sagen hat. Gastfreundschaft öffnet Herzen und Ohren.

3. Neues Testament
Auch im Neuen Testament wird an vielen Stellen klar, dass Gastfreundschaft wichtig ist, ein wesentlicher Teil des Glaubens ist, sichtbar gelebte Nächstenliebe.
Nicht einfach als „christliche Pflicht“. Nicht nur eine kulturell vorgegebene Anstandsregel.

Jesus war selber sehr häufig Gast. Er und seine Jünger profitierten von der Gastfreundschaft von Menschen.

Zu Zachäus sagte er: Heute muss ich in deinem Haus einkehren. (Lukas 19, 5)

In der Begegnung mit den beiden Schwestern Maria und Martha sieht es so aus, dass Jesus die Gastfreundschaft gering schätzt. Die vielbeschäftigte Martha, die sich vorbildlich um die Versorgung der Gäste kümmert, bekommt von Jesus zu hören: „Du machst Dir viel zu viele Sorgen. Maria hat das bessere Teil erwählt.“ Doch Jesus will vor allem sagen: Zuerst ist etwas anderes dran. Das Hören. Anschliessend können wir gerne zum kulinarischen Teil übergehen. Stresse dich und die anderen doch nicht so!

Paulus schreibt in Römer 12, 13: Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.
Der Kontext ist hier wichtig: «Segnet, die euch verfolgen, segnet, und verfluchet nicht! Freut euch mit den Fröhlichen, weinet mit den Weinenden.» Paulus denkt die Gastfreundschaft radikal, kompromiss- und bedingungslos. Auch Feinde sind darin eingeschlossen. Die Gäste müssen sich nicht erst einer Identitätsprüfung unterziehen. Die Gastfreundschaft ist eingebettet und begründet in der Beziehung zu Gott. Sie ist die direkte und sehr konkrete Auswirkung der Glaubensüberzeugung, dass die Menschen Söhne und Töchter Gottes, also Geschwister sind und deshalb zusammengehören.

Und im 1. Thess. 4, 10 fordert Paulus die Gemeinde auf, in der Liebe zueinander noch verschwenderischer zu werden.

Und in Hebräer 13, 12 heisst es: Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht - so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.

4. Theologische Aspekte der Gastfreundschaft

a) Gastfreundschaft gründet in der Heiligkeit des Menschen
Im ersten Kapitel der Schöpfungsgeschichte wird beschrieben, wie Mann und Frau „nach dem Bild Gottes“ erschaffen wurden.
Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie. (Genesis 1:27)
Jeder Mensch verdient Wertschätzung und Gastfreundschaft, weil er als Ebenbild Gottes „heilig“ ist.

Alexander Scott, ein keltischer Lehrer des 19. Jahrhunderts, gab das Beispiel eines königlichen Kleides. Scheinbar wurden in jenen Zeiten königliche Kleider mit einem kostbaren Goldfaden gewoben. Wenn dieser Goldfaden aber aus irgendeinem Grund aus dem Stoff herausgezogen wurde, fiel das Kleid auseinander. Das gleiche geschieht mit uns. Das Bild Gottes ist wie ein Faden in den Menschen hineingewoben. Wenn er aus uns herausgezogen wird, würden wir nicht mehr „sein“. Das Bild Gottes in uns ist nicht davon abhängig ob wir getauft sind oder nicht. Es ist der wesentliche Kern der menschlichen Seele.

Der Kern kann verdeckt sein, durch Verletzungen, durch eigene Schuld, durch einen Schutzpanzer, den man um das Herz gelegt hat. Aber der Kern kann nicht verloren gehen. Die Wärme der Gastfreundschaft ist einer der Wege der Heilung. Ein „gefrorenes Herz“ kann langsam auftauen.

b) Gastfreundschaft zeigt sich in der bedingungslosen Annahme des anderen.
Weil alle Menschen als „Bild Gottes“ geschaffen sind, verdient jeder Mensch Respekt und angenommen zu werden. Die anderen als die Personen annehmen, die sie sind ohne sie sofort zu etikettieren nach Geschlecht, Konfession, Religion, Herkunft, Rasse.

Gastfreundschaft fängt damit an, dass ich mich dem andern zuwende, dass ich Offenheit zeige und zuhöre. Zuhören heisst, dem anderen Würde zu geben. Wenn wir uns weigern, zuzuhören, dann signalisieren wir dieser Person gegenüber Distanz und respektieren ihre Seele nicht.

c) Im Fremden begegnet uns Christus
Es gibt eine alte keltisch-christliche Inschrift zur Gastfreundschaft:
Letzte Nacht sah ich einen Fremden.
Ich gab ihm Speise, wo wir essen.
Ich gab ihm Trank, wo wir trinken.
Ich spielte Musik, wo wir hören.
Und im Namen des dreieinen Gottes segnete er mich, mein Vieh und meine Lieben.
Und die Lerche sagte in ihrem Lied:
„Oft, oft, oft, kommt Christus in der Verkleidung eines Fremden.“

Wir sollen andere willkommen heissen, weil diese Personen könnten Christus sein. Wir tun dies im Bewusstsein von Matthäus 25: „Alles was ihr den Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan…“

Spannend an diesem kleinen Gedicht ist nicht nur der Gedanke, dass wir Christus im Fremden begegnen können, sondern auch, dass man den Gast geniessen kann. Essen und Trank, das ist zu erwarten. Das gehört sich.  Doch dann kommt das Überraschende: „Ich spielte Musik.“ Hier beginnt die Pflicht zur Freude zu werden.

Ich stelle mir vor, wie der Gastgeber zur Gitarre oder zur Geige greift und dem Fremden eine lustige Melodie vorspielt, um ihn aufzuheitern. Bald aber greift dieser in seine Jacke und bringt eine Flöte zu Vorschein und gemeinsam beginnen sie zu musizieren, beginnen, Gefallen aneinander zu finden, und spielen bis in die Nacht hinein.

d) Gastfreundschaft kommt von Herzen
Es sind nicht die grossen Gesten, welche die Gastfreundschaft ausmachen. Es sind die kleinen, alltäglichen, fast schon unbewussten Dinge, die Gastfreundschaft zu einem Lebensstil werden lassen. Es braucht nicht unbedingt ein fünf-Gang-Menu, keinen teuren Wein, kein gediegenes Ambiente. Gastfreundschaft ist keine Frage der materiellen Möglichkeiten, sondern eine Frage des Herzens. Zwei Dinge braucht es jedoch, um Gastfreundschaft leben zu können: Zeit und Empathie, Einfühlungsvermögen.

e) Sich unterbrechen lassen
Zeit und Empathie sind die Wurzeln der Gastfreundschaft. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich unterbrechen zu lassen. Und das ist heue alles andere als einfach. Wie sehr sind wir eingebunden in unsere täglichen Aufgaben, unsere beruflichen Anforderungen und die familiären Verpflichtungen. Wir leben in einer Zeit, in der sich selbst Freunde kaum mehr unangemeldet besuchen können. Es gilt als unhöflich, einfach so „hereinzuschneien“. Wie viel schwieriger ist es noch, sich fröhlichen Herzens Zeit für einen Fremden zu nehmen.

f) Gastfreundschaft nährt den Gast und den Gastgeber
Gastfreundschaft ist keine Einbahnstrasse, wo der Gastgeber nur gibt und der Gast nur nimmt. Geben und nehmen befinden sich in einem ständigen Fluss.
Gastfreundschaft nährt sowohl den Gast, als auch den Gastgeber. Es fliesst etwas zurück, an Dankbarkeit, an Freundschaft, an Beziehung, an Liebe, …
Nur wer Angst hat, zu kurz zu kommen, muss seine Leistungen aufrechnen.

5. Schluss: Gott ist der grosse Gastgeber
Ich möchte nochmals anknüpfen an den Psalm 23.
Du bist bei mir.
Du bereitest vor mir einen Tisch, sogar im Angesicht meiner Feinde.
… Und ich werde bleiben im Haus des Herrn für immer.

Das Haus des Herrn ist der Tempel. Aber zur Zeit Davids stand der Tempel in Jerusalem gar noch nicht. Erst sein Sohn Salomo dufte den Tempel bauen.

Das Haus des Herrn ist seine ganze Schöpfung. In ihr erfahren wir Gott als die Quelle der Gastfreundschaft. Er gibt uns als Gäste auf seiner Erde alle guten Dinge und lässt uns von den Kostbarkeiten seiner Schöpferkraft geniessen.

Und so kann jede gute Gabe, jede zärtliche Geste, jede wesentliche Begegnung und jedes Wort des Friedens zu einem Zeichen der Gastfreundschaft werden. Wir empfangen sie frei und umsonst und wird sind gerufen, sie weiterzugeben an den, der sie braucht.

Verfasser: Thomas Bachofner, Leiter tecum
Anlass: Forum Generationenkirche 15.11.2018
Themen: keltische Spiritualität, Weggemeinschaft, Umgang mit Freunden und Fremden, Formen, Rituale der Gastfreundschaft