Magische Momente (2018)

„Wie hat der das nur hingekriegt?“ Ratlos und verwirrt sitzt Thomas in seinem Büro im Fehrenhaus. Er kann es noch immer nicht recht fassen, was er heute Morgen am Mitarbeitertag der Stiftung erlebt hat. „Da muss irgendein fauler Trick dahinter sein! Vielleicht Hypnose? Geht das Richtung Esoterik? Oder ist es gar okkult? Verfügt er tatsächlich über geistige Kräfte? Kann er in das Hirn von anderen Menschen eindringen, das Hirn einer anderen Person hacken?“ Je länger Thomas darüber nachdenkt, desto unwohler wird es ihm.
Was er heute am Mitarbeitertag erlebt hat, war schon ziemlich starker Tabak. Pat Perry ist ja an sich ein sehr sympathischer und gewinnender Mensch. Mentalmagier nennt er sich. Irgendeine Stadt solle ich mir vorstellen, die am Wasser liegt. Besondere Gerüche gäbe es dort. Noch bevor er den Satz beendet hat, ist schon das Wort „Bangkok“ in meinem Kopf. Ich schreibe es auf einen Zettel. Doch Pat tippt auf London. Pech gehabt. Es hat leider nicht funktioniert.
Doch eine halbe Stunde später öffnet er ein Couvert, das schon die ganze Zeit vorne hing. Auf dem Zettel steht: „Weil der Kandidat eine starke Persönlichkeit hat, hat er sich statt London Bangkok vorgestellt.“ Ich und alle anderen im Saal sind verblüfft und verwirrt. Ein magischer Moment.
Ein paar Monate später. Thomas sitzt wieder im Büro und hängt trübseligen Gedanken nach. Wo bleiben eigentlich diese magischen Momente? Pat Perry mit seiner Geschichte von London und Bangkok und mit seinen Zaubertricks kreiert halt solche Momente. Bei Rolf hat er es ja einen Tag später genau gleich gemacht und es hat auch geklappt. Ich bin halt kein Magier. Das will ich auch gar nicht sein.
Doch da – die Türglocke klingelt zweimal wie wild. Die Türe geht auf. Trampelnde Schritte verraten sofort, wer im Anzug ist. Natürlich, es ist Ueli. Eine ziemlich imposante Erscheinung, wie er da im Türrahmen von meinem Büro steht. Ehrfurchtgebietend, fast schon ein wenig einschüchternd. Intuitiv ziehe ich meine Hand zurück, die ich schon zum Gruss hinstrecken wollte. Ich möchte nicht, dass sie in seinen Pranken zermalmt wird.
„Wo ist Fabienne?“, will Ueli wissen. Ich gebe zur Antwort: „Sie ist leider nicht hier. Sie hat heute frei. Du musst mit Jasmin und mir vorlieb nehmen.“ Wie immer will Ueli von mir bestätigt bekommen, dass sein Weltbild immer noch in Kraft ist. Stündlich, ja fast schon im Minutentakt muss er abchecken, dass Welt immer noch in Ordnung ist.
So entgegne ich: „Ja, auch Richter und Polizisten machen manchmal Fehler. Auch Professoren und Politiker können sich täuschen. Über die höher entwickelten Wesen kann ich dir leider nicht genauer Auskunft geben. Mit denen kenne ich mich zu wenig aus.“
Innerlich denke ich: Wie bringe ich diesen Koloss nur wieder aus der Hütte heraus innert nützlicher Frist? Deshalb sage ich: „Ich wünsch‘ dir noch einen schönen Tag und ich muss jetzt wieder etwas arbeiten. Ich habe noch viel zu tun.“ Aber denkste - so einfach lässt er sich nicht abwimmeln. Hartnäckig fragt er nach. Denn jetzt kommt noch die Frage der Fragen, die Frage, die noch gestellt werden muss: „Ja und was ist mit Gott? Sieht er alles und macht er keine Fehler?“ – „Ich glaube, dass Gott alles sieht und keine Fehler macht. Ja, das glaube ich. Aber beweisen kann ich es nicht.“
„Warum kann dann Gott alles sehen?“ - „Weil er nicht an Raum und Zeit gebunden ist, weil er mit seinem Geist jederzeit an allen Orten sein kann. Weil er alles weiss und alles sieht.“ Ohne lange zu überlegen sagt nun Ueli in einer Selbstverständlichkeit: „In dem Fall muss Gott grössere Augen haben als wir.“
Nun räumt Ueli das Feld und schaut noch schnell bei Jasmin rein. Ich bleibe verwundert zurück und staune über den Satz. Gott muss grössere Augen haben als wir. Ja, genau so ist es. Schöner kann man es wirklich nicht sagen. Da ist er, der magische Moment. Unerwartet, noch vor der Kaffeepause.
Wie gross sind denn die Augen Gottes? Diese Frage beschäftigt seit diesem Morgen Thomas. Als er an einem Mittwochmorgen im Chorgestühl der Klosterkirche sitzt, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Klar doch, das Auge Gottes ist etwa ein Meter gross. Auf jeden Fall bei uns hier in der Kartause ist das so. Hier in der Klosterkirche hat es doch dieses gelbe Glasfenster über dem Hochaltar, das nach Osten ausgerichtet ist. Dem sagt man „Oculus Dei“, also Auge Gottes.
Jetzt im Sommer scheint am frühen Morgen die Sonne durch das Glasfenster und zaubert einen zarten, orangen Lichtschimmer auf die Wände, der dann über die Stuckaturen und die Bilder wandert. Was für ein Anblick. Ein magischer Moment. Morgenglanz der Ewigkeit.
Das Auge Gottes ist da, wo Licht in mein Leben, in meine Welt hineinkommt aus einer anderen Welt. Wo plötzlich alles in einem anderen Licht erscheint. Und es kommt mir vor, wenn dieser Lichtstrahl auf einen Gipsengel fällt oder auf eine geschnitzte Holzfigur, dass diese Figur aus dem Schatten auftaucht und erwacht und lebendig wird. Im Licht von Gott werde ich lebendig.
Ganz still geniesst Thomas diesen Augenblick. Niemand ist ins Morgengebet gekommen. Deshalb kürzt er das Prozedere ab. Als er die Klosterkirche verlassen will, sieht er, dass doch noch jemand gekommen ist. Er war so in sich versunken, dass er die jüngere Frau gar nicht bemerkt hat, die im Chorgestühl Platz genommen hat.
Aber sie ist etwas eigenartig gekleidet. In Tücher eingewickelt. Thomas geht zu ihr hin und fragt: „Sie sehen nicht aus wie ein Seminargast. Sind Sie hier im Hotel als Einzelgast und geniessen die Ruhe dieses Ortes für sich?“ „Ja, die Ruhe und die Stille dieses Ortes geniesse ich sehr. Aber ich bin nicht Gast hier. Ich bin immer hier.“ „Sie sind immer hier? Aber dann müsste ich Sie doch kennen. Ich wohne auch hier.“
Langsam fängt es an zu dämmern in Thomas. Er schaut auf die Frau, dann schaut er hoch zum Wandbild, auf dem die Sünderin Jesus die Füsse wäscht mit ihren Tränen, sie mit ihren Haaren trocknet und mit Öl salbt. Dann schaut er wieder auf die Frau und erkennt gewisse Ähnlichkeiten, dasselbe Kleid, das gewellte Haar, die strahlende Schönheit.
„Sie sind… Maria Magdalena?“ - „Ja, tatsächlich, die bin ich. Und ich freue mich, dass ich Sie endlich einmal persönlich kennenlernen kann. Ich sehe Sie und die anderen immer, wie ihr jahrein jahraus getreulich zum Gebet kommt. Egal, wieviel Menschen sonst noch da sind. Ihr kommt einfach. Das finde ich schön. Aber wollen wir nicht Du zueinander sagen? Das ist weniger formell.“
„Äh, ich bin jetzt gerade ein bisschen überrascht. Aber ja, gerne, ich bin Thomas.“ - „Ich weiss wie Du heisst. Als ich dich vorhin sah, wie Du das Licht angeschaut hast, das durch das Auge Gottes in die Kirche hineinleuchtet, da hat mich das daran erinnert, dass ich genau dieses Licht gesehen habe, damals, als ich Jesus begegnete im Haus des Phärisäers Simon. Darf ich Dir davon erzählen?“ - „Ja, gerne.“
„Ich hatte gesehen, dass Simon Jesus und seine Jünger zu sich eingeladen hatte. Ich ging auch ins Haus hinein. Von hinten schlich ich mich heran und wollte die Füsse von Jesus mit Öl salben. Von Jesus ging so ein Leuchten aus. Ganz intensiv war das. Ich war innerlich so tief berührt, dass ich in Tränen ausbrach. Als ich zu ihm aufschaute, trafen sich unsere Blicke. Es war wie wenn ein Blitz mich getroffen hätte. Ich spürte, da schaut mich Gott an, mit grossen Augen. Aber er schaut mich nicht nur an, er schaut auch in mich hinein und durch mich hindurch.
Es war ein Blick, der bis in die Tiefe meiner Seele hineinreichte. Er erkannte mich, wie ich wirklich war. Er sah nicht nur die Oberfläche. Er sah alles, was ich war und was ich getan hatte. Natürlich kam auch mein zwielichtiges, unehrenhaftes Leben als Prostituierte ans Licht. 
Aber eigenartigerweise fühlte ich mich nicht verurteilt und auch nicht beschämt. Jesus hat mich nicht vor allen Leuten blossgestellt, die so verächtlich auf mich herunter geschaut haben. Er hat mir zugelächelt und einfach gesagt: Maria, jetzt fängt für dich ein neues Leben an. Er hat nicht gesagt: Gib dir Mühe, bekenne deine Sünde und bessere dich. Er hat nur gesagt: Jetzt fängt für dich ein neues Leben an.
Und genauso war es auch. Ich konnte eine andere Person werden. Alles Negative, das ich in der Vergangenheit erlebt habe, alles Belastende, das mich all die Jahre heruntergezogen hatte, alle Enttäuschungen, all das ist einfach von mir abgefallen. Alle diese Stimmen in mir, die mir Tag und Nacht einflüsterten: Du bist nichts. So eine wie du kann niemand lieben. Du kannst dich noch so anstrengen, es wird nie reichen. All diese Stimmen verstummten plötzlich.
Eine riesige Last fiel von meinen Schultern. Ich konnte frei atmen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich leicht. Etwas, das ich vorher in meinem Leben nie gekannt hatte. Etwas, das ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, dass es das gibt. Ein neues Leben begann. Ich bin auferstanden. Damals kam dieses Licht in mich hinein und ist seither immer bei mir geblieben. Thomas, weisst du, dass dieses Licht überall ist?“ - „Im Theologiestudium habe ich das nicht gelernt!“ sagt Thomas lachend. „Aber hier, wenn ich mit dir rede, ahne ich es, mehr und mehr…“ „Ja, hier überall ist dieses Licht! Komm, ich zeige es dir.“
Zusammen gehen Maria und Thomas zum Weihnachtsaltar im Bruderchor. „Da, siehst du, das Licht ist auf dem Jesuskind – ja das Licht geht regelrecht von ihm aus. Er ist die Lichtquelle. Das ist ja eigentlich nicht möglich. Aber Jesus ist das Licht, das Licht der Welt. Und er schaut uns an, mit grossen Augen voller Liebe. Das ist wirklich so. Ich hab es erlebt. Ich habe in seine Auge geschaut.“ - „Ja, jetzt sehe ich es auch. Danke, dass du mir das erzählt hast und es mir gezeigt hast. Ich hoffe, wir treffen uns wieder einmal.“ - „Ganz sicher! Du weisst ja, wo ich zu finden bin.“
„Heute dauerte das Morgengebet aber lange. Wo bist du auch gewesen?“ fragt Mirjam, als Thomas zur Haustüre hereinkommt. „Und warum blickst du so komisch in die Ferne?“ - „Zuerst war ich alleine im Morgengebet. Aber dann kam doch noch eine spezielle Besucherin und wir haben über das Licht gestaunt, das vom Auge Gottes in die Klosterkirche fällt. Das Licht, das uns lebendig macht und unserem Leben einen besonderen Glanz verleiht. Es war ein magischer Moment. Es war wie Weihnachten - mitten im Sommer.“

22. Dezember 2018
Thomas Bachofner